Was mich am aktuellen Arbeitssystem am meisten nervt: Wer sich selbst „retten“ will, Stunden reduziert, nicht die ganze Woche vor dem Bildschirm sitzen will oder generell seine mentale Gesundheit wichtig findet – der bekommt nicht nur weniger Lohn, sondern auch deutlich weniger Rentenpunkte gegenüber dem Absitzen der (Voll-)Zeit.
Denn die Rentenpunkte werden rein über das Jahresbruttogehalt berechnet, jedes Jahr kann man ca. einen Rentenpunkte erlangen:
Hat man das Glück, die Rente zu erleben, werden die Gesamtpunkte aktuell mit 39,32 Euro multipliziert in Deutschland. Beispiel: 40 Jahre arbeiten von 27 bis 67 = 40 Punkte x 39,32 € = 1572.80 € Brutto-Rente pro Monat, Abzüge kommen noch dazu.
Ein Studium ohne Arbeiten nebenbei bringt in Deutschland übrigens nur „Versicherungszeit“, aber keine Rentenpunkte. (Hilfreich ist diese Zeitanrechnung, weil man für die frühzeitige Altersrente mindestens 35 Jahre Versicherungszeit braucht).
Wenn ich komplett ehrlich zu mir selbst bin, will ich bei stark fremdbestimmten Jobs maximal 32h/Woche arbeiten um mental gesund zu bleiben. Vor allem bei High-Performance-Jobs wie Programmierung, wo jede Arbeitsstunde einzeln gebucht werden muss – und man sich teils für diese später rechtfertigen muss.
Mich macht es besonders betroffen, wenn viele Kolleg:innen freiwillig Stunden reduzieren weil sie keinen Bock oder mentale Kraft für das Vollzeit-Hamsterrad haben, am Ende ungefähr gleich viel Arbeitsoutput haben und sich gleichwertig reinhauen – und dies dann gesellschaftlich mit weniger Rentenpunkten „bestraft“ wird.
Wer schneller und effizienter arbeitet und nicht die ganze Woche vor dem Bildschirm sitzen möchte, kriegt aktuell nicht nur weniger Lohn – sondern auch weniger Rente. 🏆 🎉 (Voll-)Zeit absitzen wird hingegen belohnt.
Ohne Aussichten auf ein großes Erbe, besteht hier ggf. auch das Risiko #Altersarmut wenn man jahrelang nicht in Vollzeit, sondern Teilzeit arbeitet.
Und dieses Risiko betrifft vor allem auch Menschen, die wie ich in Ostdeutschland aufgewachsen sind, weil dort die Erbmenge deutlich geringer ist.
Doch es bleiben Unterschiede
Die du mit der Zeit bemerkst
Hier wohnt keiner mehr zur Miete
Hier hat jeder was geerbt
Ebenso betroffen sind Arbeiterkinder, Armutsbetroffene, Frauen, die Kinder groß ziehen und Care-Arbeit leisten, weswegen u.a. Rentensplitting ein vieldiskutiertes Thema ist – die Liste der Probleme ist lang. Nicht jeder kann befreit und happy mit Erwerbsarbeit umgehen und Stunden beliebig reduzieren.
„Spannend“ ist für mich, dass die aktuellen Rentensysteme rein auf Quantität (Lohn) statt Qualität basieren. Und somit auch die Relevanz der Jobs für die Gesellschaft keinerlei Rolle spielt. Stichwort schlechter bezahlte Pflegearbeit, etc. 🤯
Das Argument des „Zeitabsitzens für Rentenpunkte“ betrifft natürlich primär Bürojobs, bei denen man sowieso schon sehr privilegiert ist von den Arbeitsumständen her. Den reinen Fokus auf Produktivität kann man natürlich ebenso kritisch betrachten.
Im Hintergrund steht übrigens der Generationenvertrag, der zusichert dass zukünftige Generationen unsere Rente solidarisch übernehmen. Dieser gesellschaftliche „Vertrag“ verpflichtet aber ebenso die aktuelle Erwachsenen-Generation zur Erwerbsarbeit.
Bezüglich Klimakrise & Co stellt sich zudem die Frage, ob so viel Vollzeit-Arbeit und das aktuelle Wirtschaften überhaupt weiterhin tragfähig ist:
Also wollte Frey herausfinden, wie viele Arbeitsstunden ökologisch nachhaltig wären. Und er begann für den unabhängigen britischen Thinktank Autonomy zu rechnen. […] Als Frey diese Zahlen mit dem Kohlenstoffbudget verglich, das ein Land für wirksamen Klimaschutz einhalten müsste, zeigte sich, dass die Arbeitsleistung deutlich zu hoch ist: Statt der üblichen 40-Stunden-Woche – Normalarbeitszeit auch in Österreich – wäre etwa in Deutschland eine neunstündige Arbeitswoche nachhaltig.
– Eine Neun-Stunden-Arbeitswoche könnte dem Klima helfen (derstandard.at)
Auf diese Studie von Frey aufmerksam geworden bin ich über das Buch von Bianca Jankovkska. Der Studien-Autor selbst sieht sie eher als symbolischen Weckruf.
Ebenso immer wieder im Gespräch ist das Bedingungslose Grundeinkommen:
Der Historiker Rutger Bregman glaubt, dass weniger Lohnarbeitsstunden pro Person die Lösung für quasi all unsere Probleme wären. Er plädiert in seinem Buch „Utopien für Realisten“ für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Denn Menschen, die weniger arbeiten, seien zufriedener mit ihrem Leben und weniger anfällig für psychische Erkrankungen.
– Eine Neun-Stunden-Arbeitswoche könnte dem Klima helfen (derstandard.at)
Eine 9h-Woche, ein Bedingungsloses Grundeinkommen oder weitere Lösungsansätze erscheinen unter aktuellen politischen Mehrheiten natürlich sehr unrealistisch. Insbesondere wenn schon Verkürzungen zu 36h oder 32h heftig debattiert werden und dabei der Niedergang der Wirtschaft prophezeit wird. Die hoffnungsvolle Botschaft: Dieser Niedergang wurde bis jetzt bei jeder Verkürzung prophezeit, passiert ist wenig.
Ob weniger Arbeitsstunden aber wirklich zu weniger Treibhausgas führen, ist aber ebenso umstritten. Weil mehr Freizeit ggf. doch auch mehr Konsum, Urlaube, etc. bedeuten könnte. Für mich wäre daher die Argumentation bzgl. körperliche und mentale Gesundheit sowie Geschlechtergerechtigkeit, Bekämpfung Altersarmut bei Frauen, höherer Arbeitsintensität, etc. deutlich relevanter bei der Einsetzen für eine „Arbeitszeitverkürzungen für alle“.
Ein zweiter Hintergrundaspekt ist übrigens auch die fortschreitende Automatisierung durch Roboter und möglicherweise KI, die letzten Endes sogar wahlentscheidend zu Gunsten Populismus und Faschismus sein kann – weil keine Aufstiegschancen für „low skilled workers“ mehr existieren und dies von der Bevölkerung wahrgenommen wird. Hier stellt sich ebenso die Frage, ob „Vollzeitbeschäftigung für alle“ noch ein valides politisches und gesellschaftliches Ziel ist. Oder ob wir mit dem Umdenken beginnen sollte.
Wie geht ihr mit dieser Challenge um, dass 40h-Vollzeit (bzw. 38,5h-Vollzeit) weiterhin der Status Quo ist?
Beitragsbild: Bing Image Creator (KI), gerne frei weiterverwenden.
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