Moralisieren wir als Gesellschaft derzeit zu viel, wenn wir politische Entwicklungen bewerten? Die Schriftstellerin Juli Zeh, die als „Brotjob“ Jura studierte und inzwischen u.a. ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht Brandenburg ist, war bei SRF Sternstunde Philosophie sowie im „Hotel Matze“-Podcast zu Gast.
Auf srf.ch findet sich auch ein kurzes Text-Interview zur Sendung:
„Ich appelliere nur daran, nüchtern darauf zu blicken. Bei fast allem, was uns Menschen betrifft, wird es toxisch, wenn man es übertreibt. Sei es Radfahren, Gummibärchen oder Moral. Zurzeit glaube ich, dass wir im politischen Großwettersystem zu einer Moralisierung neigen. Deswegen gehe ich automatisch in die Verteidigung der Realpolitik. Weder das eine noch das andere in Reinkultur ist richtig, sondern der Mittelweg.“
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/bestsellerautorin-im-interview-juli-zeh-die-weltpolitik-ist-kein-spielfeld-fuer-moral
Einiges erinnert mich irgendwie an die Debatte „Realos vs. ‚Fundis’“ innerhalb der damals populär werdenden Grünen-Bewegung in den 1980er Jahren. In dieser Debatte wurde heftig um die Frage gekämpft, ob man nun bspw. selber Regierungsverantwortung übernehmen solle:
„Im 1993 festgehaltenen „Grundkonsens“ mit Bündnis 90 nahmen die Grünen von ihrer systemkritischen Haltung Abstand […] [I]n der Ökologiefrage entwickelten sie Konzepte für den schrittweisen Umbau der Industriegesellschaft innerhalb der bestehenden marktwirtschaftlichen Ordnung, statt deren Überwindung zu fordern.“
https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/gruene/42154/die-programmatik-der-gruenen
Auf dem YouTube-Kanal zeitzeugen-Portal gibt es einige Erlebnisberichte hierzu: Jutta Ditfurth („Fundi war ein Schimpfwort“) , Ludger Volmer, Antje Vollmer.
Dann kommen die Landtagswahlen von 1985 in Hessen. Die Grünen koalieren erstmals mit der SPD. Joschka Fischer wird in Schlabbersakko und mit Turnschuhen als Umweltminister vereidigt. Der erste grüne Minister. Der Turnschuhminister. Das klingt unangepasst, aber Fischer ist einer derjenigen, die die Partei über Jahre hinweg pragmatisch für die wirklichen oder vermeintlichen Notwendigkeiten des politischen Betriebes anpassen. Ein Realo. Die Anhänger der Fundamentalopposition, die Fundis werden verdrängt. „Das waren Zerreißproben, daran sind viele Aktive verzweifelt und haben die Grünen verlassen,“ sagt Ströbele, „das habe ich sehr bedauert.“ Jutta Ditfurth verlässt 1990 im Eklat die Partei und nimmt 300 Parteimitglieder mit.
https://www.dw.com/de/radikal-alternativ-etabliert-30-jahre-gr%C3%BCne/a-5089656
In Bezug auf die Klimakrise ist für mich desöfteren ersichtlich, wie statt Moral (= „ein stabiles Klima für nachkommende Generationen“) eine (knallharte) Interessenspolitik bzgl. den Rohstoffen Öl, Gas und Kohle betrieben wird für wirtschaftliche Gewinne und / oder Machterhalt der derzeitigen Strukturen. Dies ist weiterhin schwer aushaltbar – wenn man von einem stark moralischen Standpunkt aus auf die Situation blickt. Auch die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Staaten ist ja ein Unding, wenn man dafür das Leben und die Sicherheit nachfolgender Generationen aufs Spiel setzt – stattdessen wäre internationale Zusammenarbeit der moralische Weg. Diese stark moralisierte Perspektive auf die Welt challenged Juli Zeh nun jedoch, wenn ich sie richtig verstehe.
In Zehs Büchern „Über Menschen“ (2021) oder „Zwischen Welten“ (2023) spielt das Thema Klima(krise) ebenso eine Rolle, ich habe diese allerdings noch nicht gelesen.
Das SRF-Gespräch ist auch als Podcast verfügbar.
Einen weiteren einen inspirierenden Podcast mit Juli Zeh habe ich beim Monopol Magazin gefunden. In der Episode wird u.a. die starke Ich-Bezogenheit der westlichen Welt kritisch beleuchtet: „Fantasiemuskel“-Podcast #44: Empathie üben – mit Juli Zeh.
Im Hotel Matze Podcast ging es dann auch viel um schriftstellerische Fragen mit ihrem Ehemann David Finck, ebenfalls Schriftsteller.
Beitragsbild: Heike Huslage-Koch, Juli Zeh Leipziger Buchmesse 2016, CC BY-SA 4.0
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