Die Klimakrise konfrontiert uns mit düsteren Aussichten wie Extremwetter bis hin zu Apokalypse-Szenarien: Was, wenn tagelang der Strom und Wasser ausfällt?
Vor unserem inneren Auge spielt sich jetzt vermutlich folgender Hollywood-Katastrophen-Film ab: Jeder gegen jeden, Gewalt, Plünderungen. Kaum bricht die alltägliche Ordnung zusammen, zeigt der Mensch sein wahres, egoistisches Gesicht?
Der Historiker Rutger Bregman hält diese zynische Sichtweise für eine der größten Fehlannahmen über die Menschheit. Laut ihm kann diese Annahme auch wissenschaftlich sehr gut widerlegt werden. Im Notfall können wir auf die Hilfe unserer Mitmenschen vertrauen:
Was die Wissenschaftler seit den 1960er Jahren wissen – und sie haben inzwischen mehr als 700 Fallstudien durchgeführt, um dies zu belegen -, ist, dass man in Krisenzeiten eine Explosion der Hilfsbereitschaft erlebt.
[…]
Die meisten Menschen sind ziemlich anständig. Es ist eine wirklich radikale und subversive Idee, die bedeutet, dass wir die Art und Weise, wie wir jetzt leben und wie wir unsere Gesellschaft organisieren, völlig verändern können.
Rutger Bregman im Video von BrightVibes, übersetzt mit DeepL.com
In seinem Buch Im Grunde gut (2021) hat er hierfür zahlreiche Belege zusammengetragen, bspw. die Ereignisse nach dem Hurricane Katrina in New Orleans:
Bregman konfrontiert uns Lesende zu Beginn mit einer Frage und zwei Antwortmöglichkeiten. Ein Flugzeug muss notlanden und bricht in drei Teile. Die Kabine füllt sich mit Rauch. Allen Insassen ist klar: Wir müssen hier raus. Was passiert?
Auf Planet A fragen die Insassen einander, ob es ihnen gutgehe. Personen, die Hilfe benötigen, bekommen Vortritt. Die Menschen sind bereit, ihr Leben zu opfern, auch für Fremde.
Auf Planet B kämpft jeder für sich allein. Totale Panik bricht aus. Es wird getreten und geschubst. Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen werden niedergetrampelt.
Die Frage ist: Auf welchem Planeten leben wir? Über 90 Prozent der Befragten glauben, dass wir uns auf Planet B befinden – ein Irrtum? Bregman zählt bekannte Katastrophen auf, die alle auf unserem Planeten, dem Planet A, vorgekommen sind. Der Untergang der Titanic, der Einsturz der Twin Towers, New Orleans nach Hurrikan Katrina. Die Menschen agierten großteils geduldig, hilfsbereit und selbstlos.
Auf über 400 Seiten schildert Rutger Bregman Beispiele aus Geschichte, Anthropologie, Philosophie, Biologie und Psychologie: Isolierte Inselvölker haben sich wohl doch nicht gegenseitig ausgerottet; Soldaten schossen absichtlich über ihr Ziel. Bregmann stellt wenig bekannte Beispiele menschlicher Kooperation dar und widerlegt Annahmen der letzten Jahrzehnte. […]
https://fm4.orf.at/stories/3003405/
Aber natürlich steht auch die Frage im Raum, warum der Mensch dann ebenso grausam und gewalttätig agieren kann. Im Kurzvideo (s.o.) beantwortet Bregman dies u.a. wie folgt:
Wir können auf eine Art und Weise kooperieren, wie es kein anderes Tier kann. Und das ist das Geheimnis unseres Erfolges, auch wenn wir einerseits eine der freundlichsten Spezies im Tierreich sind, so sind wir doch eindeutig auch die grausamsten.
Die große Frage, die sich bei einem Buch über die menschliche Freundlichkeit stellt, lautet also: Wie kann man das erklären? Ich glaube, es gibt einen Zusammenhang zwischen unserer Freundlichkeit und unserer Grausamkeit, denn manchmal ist die Freundlichkeit sogar das Problem. Unsere Freundlichkeit kann sich manchmal in Gruppendenken und Stammesverhalten verwandeln, und dann fangen wir an, schlechte Dinge zu tun, manchmal sogar schreckliche Dinge im Namen der Loyalität, weil es uns schwerfällt, uns gegen unsere eigene Gruppe zu stellen.
Rutger Bregman im Video von BrightVibes, übersetzt mit DeepL.com
Im zeit.de-Artikel von Jakob Simmank wird diese unglaublich schwierige Frage noch ein bisschen ausführlicher behandelt:
Deswegen bleibe er auch dabei. In den meisten Menschen stecke nicht direkt unter der Oberfläche ein Nazi. „Man muss stattdessen die langen historischen Prozesse verstehen, die zu so etwas wie dem Holocaust führen, und die Normalisierung des Bösen.“ Den Deutschen sei so lange das Gehirn gewaschen worden, bis sie kaum noch Gut von Böse unterscheiden hätten können. Dazu komme der ungeheure Gruppenzwang, den die Naziführung zu schüren verstanden habe. Viele Wehrmachtssoldaten waren keine glühenden Nazis oder Antisemiten. Sie waren vor allem Kameraden.
Man muss diese Erklärung nicht für ausreichend halten. Menschen sind eben nicht nur gut, sie sind auch autoritär, sadistisch, hasserfüllt und rassistisch. Man muss zu Bregmans Verteidigung betonen, dass er nicht so naiv ist zu glauben, dass Menschen immer nur Gutes tun. Bregman geht es um etwas anderes. Darum, zu verstehen, wie der Mensch im Naturzustand wäre. Sein Ergebnis: ganz, ganz anders, als Hobbes es sich vorstellte.
https://www.zeit.de/wissen/2020-03/rutger-bregman-im-grunde-gut-coronavirus/komplettansicht
Eine Widerlegung der Fassadentheorie
Bregmans Buch ist laut dem zeit.de-Artikel vor allem der große Versuch, die lange Zeit verbreitete Fassadentheorie wissenschaftlich zu widerlegen:
Als Fassadentheorie wird in der Philosophie, Psychologie und Anthropologie eine Theorie bezeichnet, wonach der Mensch in seinem Verhalten nur eine dünne moralische Fassade besitzt, die durch Kultur und Zivilisation entstanden ist undseine egoistische und destruktive Natur überdeckt. In Krisensituationen und unter emotionalem Druck kann diese Fassade leicht zusammenbrechen, sodass amoralische und asoziale Tendenzen die Oberhand gewinnen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Fassadentheorie
Bregmans neues Buch Im Grunde Gut will vor allem eines: eine Theorie widerlegen, die unser aller Leben prägt, die sogenannte Fassadentheorie. Sie besagt, dass der Mensch im Naturzustand egoistisch und gewalttätig ist, alle gegen alle, Totschlag und Betrug. Das Leben im Naturzustand, schrieb Thomas Hobbes, einer der bekanntesten Verfechter der Theorie, sei „nasty, brutish and short“, garstig, brutal und kurz. […] Obwohl Hobbes‘ Menschenbild unsere Institutionen und unser Denken geprägt hätten, gäbe es keinerlei Belege dafür, dass der Naturzustand so sei, wie Hobbes es sich vorstellt, sagt Bregman.
https://www.zeit.de/wissen/2020-03/rutger-bregman-im-grunde-gut-coronavirus
Bregmans Ausführungen sind sicherlich ein gute Basis für eine konstruktive Hoffnung, auf die man in Zeiten der fortschreitenden Klimakrise aufbauen kann: Die Hilfsbereitschaft im Katastrophenfall.
„Wir brauchen ein neues Menschenbild“, sagt Bregman, „ein realistisches und ein hoffnungsvolles.“
https://www.zeit.de/wissen/2020-03/rutger-bregman-im-grunde-gut-coronavirus
Im zeit-Artikel kritisiert Bregman übrigens ebenso das zynische Weltbild einiger Naturschützer:innen:
Mit seinem Buch wolle er trotzdem etwas gegen den Zynismus tun, sagt er. Denn wer nur fest genug daran glaube, dass der Mensch von Grund auf verdorben ist, der behandelt seine Mitmenschen auch so, als könnten sie einen jeden Moment verraten. Am Ende wird die Menschenfeindlichkeit zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das sehe man doch bei den Naturschützern, sagt Bregman. Der Klimawandel sei eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Aber es herrsche unter Naturschützern ein zynisches Bild des Menschen vor, und das rege viele nun einmal nicht dazu an, etwas zu verändern. Viele Naturschützer dächten, der Mensch sei ein Virus, der die Erde befallen habe, ein unverbesserlicher Ausbeuter.
https://www.zeit.de/wissen/2020-03/rutger-bregman-im-grunde-gut-coronavirus/komplettansicht
Ob diese Kritik berechtigt ist, möchte ich persönlich an dieser Stelle nicht beurteilen.
Aktuell arbeitet Bregman an seinem neuen Werk „Moralische Ambition. Wie man aufhört, sein Talent zu vergeuden, und etwas schafft, das wirklich zählt“. Hierfür hat er auch die Fellowship-Organisation moralambition mit-begründet.
Social Media Profile von Rutger Bregman:
- https://www.instagram.com/rutger_bregman/
- https://www.linkedin.com/in/rutger-bregman-a4368213b/
- https://twitter.com/rcbregman
Ein weiteres Buch über Fehlannahmen bzgl. der Menschheitsgeschichte und Ungleichheit veröffentlichten David Graeber und David Wengrow mit „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“. Auch im Werk Factfulness vom inzwischen verstorbenen Hans Rosling geht es um (statistische) Fehlannahmen über den Fortschritt in der Welt.
Beitragsbild: Von Maartje ter Horst – This picture was taken for Wikipedia, CC BY 4.0, Link sowie YouTube Vorschaubild, alle Rechte bei BrightVibes.
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