Sein Leben lang Vollzeit und ohne Unterbrechungen zu arbeiten, sei nach wie vor das Maß aller Dinge. Diese Norm müsse dringend umgekehrt werden, argumentiert Jurczyk. „Es wäre wichtig, die Lebensläufe zu entzerren.“ Zumal die Lebenserwartung steigt und die Menschen künftig wohl auch immer länger arbeiten müssten. „Wir müssen Arbeit so gestalten, dass die Menschen nicht fix und fertig sind“, meint die Soziologin deshalb.
„Es wäre wichtig, die Lebensläufe zu entzerren.“ (Soziologin Karin Jurczyk)
Gemeinsam mit dem Rechts- und Politikwissenschafter Ulrich Mückenberger hat Jurczyk ein Konzept entwickelt, mit dem alles anders werden soll. Es trägt den etwas sperrigen Namen „Optionszeitenmodell“ und sieht Folgendes vor: Jeder Mensch hat im Lauf seines Erwerbslebens ein Budget von neun Jahren bezahlter Auszeit, und zwar versehen mit einem Rechtsanspruch.
Barbara Blaha, Leiterin des Momentum Instituts*, mit einem großartigem Vortrag auf der republica-Konferenz 2024:
Soziale Veränderungen brauchen einen langen Atem, aber sie sind möglich laut Barbara Blaha – wenn wir uns aktiv dafür einsetzen:
Damit aus unseren Träumen Taten werden, müssen wir fünf Dinge verinnerlichen.
Erstens. Veränderung kommt nicht durch Wahlen. Nie. Politik kann Veränderung im Parlament schlussendlich dann absegnen. Aber auf der Straße wird sie angestoßen. Politik kann nur aufgreifen, was schon da ist und kann dann Normen, Werte und Regeln dazu schaffen. Es braucht also uns. Es braucht den Druck von „unten“, damit wir Veränderungen gegen die Apparate der Hegemonie überhaupt durchsetzen können.
Zweitens. Veränderung ist Training und braucht Training. Es ist wie ein Muskel wir müssen ihn trainieren. Jeden Tag, „use it or lose it“. Es hat keinen Sinn, sich erst in der absoluten Notsituation dazuzuschalten. Wer dann erst kommt, ist zu schwach um Veränderung überhaupt durchsetzen zu können.
Und Veränderung erkämpfen ist selbst mit viel Training verdammt unangenehm und unbequem. Wer Fortschritt will, ist zu allererst mal lästig. Das liegt in der Natur der Sache. Wer den Status Quo herausfordert, der rüttelt an den Verhältnissen – sonst stabilisiert er sie. Es ist der Sand in der Auster, der die Perle macht. Antonio Gramsci, ein italienischer Philosoph, hat nicht nur Theorien über Hegemonien geschrieben, sondern er war auch selbst aktiv. Er hat Zeitungen gegründet, gegen den Faschismus angeschrieben und am Ende dafür mit seinem Leben bezahlt und er sagt über sich, er ist „ein Partisan gegen die Gleichgültigkeit“. Er sagt „Leben ist Partei ergreifen“. Und wer Partei ergreift, macht sich angreifbar. Aber wenn wir keinen Gegenwind spüren, dann gehen wir ganz sicher in die falsche Richtung.
Viertens. Veränderung ist immer arbeiten am System, nicht arbeiten am Symptom. Bewusster Konsum, so richtig und wichtig das auch ist, wird unsere Welt nicht retten. Die Sklaverei wurde nicht von ein paar Konsumentinnen und Konsumenten abgeschafft, die beschlossen haben keine Sklaven mehr zu kaufen. Sondern von Bürgern und Bürgerinnen, die gemeinsam beschlossen haben die Sklaverei abzuschaffen. Und wir wissen, wie das damals gelungen ist – durch kollektives Handeln. Das ist unser allerstärkster Muskel und wir alle miteinander haben ihn schon ein bisschen länger nicht trainiert, sind mer uns ehrlich. Gerade wir, die wir doch wissen was die Klimakrise mit uns machen wird. Die so gut informiert sind. Wir wählen das richtige, wir kaufen das richtige, aber sonst … Nichts ist weniger unschuldig als den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Und fünftens, Veränderung geht langsam und es ist nie fertig. Frauen verdienen weniger als Männer, heute noch. 6, 8, 10 Prozent – je nachdem wie man es rechnet. Gleichzeitig aber sage ich euch, es ist viel weniger als es früher war. Ist das gut? Ja! Ist es gut genug? Nein, natürlich nicht! Aber wir brauchen die Fähigkeit, Zwischenerfolge und Zwischenetappen zu sehen und zu feiern um uns die Kraft zu erhalten weiterzukämpfen. Wir werden ein Leben lang schieben müssen. Es ist immer zu früh nach Hause zu gehen.
Das heißt also die gute Nachricht ist, wir können eine andere Welt schaffen. Die schlechte Nachricht für euch: Alles muss man selber machen. So wie die, die vor uns da waren, es ja auch gemacht haben. [..]
* Das Momentum Institut ist eine gewerkschaftsnahe österreichische „Denkfabrik der Vielen. Das Momentum-Team erarbeitet und verbreitet seit 2019 konkrete, konstruktive Vorschläge für eine nachhaltige und gerechtere Gesellschaft.“.
Das Buch von Sara Weber ist im Jahr 2022 erschienen, ich hab es leider noch nicht ganz zu Ende gelesen. Es soll trotzdem in diesem Blog nicht unerwähnt bleiben. Schon allein wegen des treffenden Titels.
Und da ist nicht nur die Pandemie. Überschwemmungen, Waldbrände, Inflation, Krieg – unsere Welt steht in Flammen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und wir? Brennen aus, um bloß keine Deadline zu reißen. Was zur Hölle machen wir da eigentlich? Warum tun wir uns das an? – Kiwi Verlag
Auf dem Herbstforum des WSI (Wirtschafts- und Sozialwirtschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung, Deutscher Gewerkschaftsbund) wurde eine Lesung und Diskussion aufgezeichnet:
Im zweiten Teil des Buches zeigt Weber Lösungen auf und schreckt nicht davor zurück, auch Themen anzusprechen, die auf den ersten Blick nicht arbeitsrelevant erscheinen. Zum Beispiel die Sorgearbeit. Denn nur wenn diese zwischen den Erziehungsberechtigten fair aufgeteilt ist und staatliche Unterstützung ermöglicht wird, kann wahre Gleichberechtigung beginnen.
Ein weiterer Aspekt sind Streiks und Gewerkschaften. Was wäre, wenn wir uns besser organisierten? Die vermehrten Lohnkämpfe im Jahr 2022 im deutschsprachigen Raum zeigen: Die Frage kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Für Arbeitsrechte musste schon immer protestiert werden. Jetzt und in Zukunft vielleicht mehr denn je.
Was mich am aktuellen Arbeitssystem am meisten nervt: Wer sich selbst „retten“ will, Stunden reduziert, nicht die ganze Woche vor dem Bildschirm sitzen will oder generell seine mentale Gesundheit wichtig findet – der bekommt nicht nur weniger Lohn, sondern auch deutlich weniger Rentenpunkte gegenüber dem Absitzen der (Voll-)Zeit.
Denn die Rentenpunkte werden rein über das Jahresbruttogehalt berechnet, jedes Jahr kann man ca. einen Rentenpunkte erlangen:
Wenn ich komplett ehrlich zu mir selbst bin, will ich bei stark fremdbestimmten Jobs maximal 32h/Woche arbeiten um mental gesund zu bleiben. Vor allem bei High-Performance-Jobs wie Programmierung, wo jede Arbeitsstunde einzeln gebucht werden muss – und man sich teils für diese später rechtfertigen muss.
Mich macht es besonders betroffen, wenn viele Kolleg:innen freiwillig Stunden reduzieren weil sie keinen Bock oder mentale Kraft für das Vollzeit-Hamsterrad haben, am Ende ungefähr gleich viel Arbeitsoutput haben und sich gleichwertig reinhauen – und dies dann gesellschaftlich mit weniger Rentenpunkten „bestraft“ wird.
Wer schneller und effizienter arbeitet und nicht die ganze Woche vor dem Bildschirm sitzen möchte, kriegt aktuell nicht nur weniger Lohn – sondern auch weniger Rente. 🏆 🎉 (Voll-)Zeit absitzen wird hingegen belohnt.
Ohne Aussichten auf ein großes Erbe, besteht hier ggf. auch das Risiko #Altersarmut wenn man jahrelang nicht in Vollzeit, sondern Teilzeit arbeitet.
Den Erfolg unseres Wirtschaftens skaliert das Bruttoinlandsprodukt – wenn es wächst, dann haben alle mehr Geld zur Verfügung und der Staat kann für sozialen Ausgleich sorgen. An dieses Narrativ sind wir so gewöhnt, dass es uns alternativlos erscheint. Die Gesetze unserer Wirtschaftsordnung erscheinen uns als Naturgesetze und die Wirtschaftswissenschaften als Naturwissenschaften. Daher halten nicht nur Konzerne und reiche Menschen am extraktiven System fest, sondern auch die meisten kleineren Unternehmen – auch sie müssen ihre Gewinne maximieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Auch individuell merken immer mehr Menschen, dass sie unter diesem System leiden, aber ihr Handlungsspielraum ist begrenzt, weil sie in strukturellen Zwängen feststecken.
[…]
Aber sind wir ehrlich: Mit der Einführung einiger Scrum-Meetings hat noch keine Organisation das Wirtschaftssystem oder auch nur sich selbst revolutioniert. New-Work-Praktiken allein sind nicht die Lösung. Unternehmen müssen sich ihrer ethischen Verantwortung bewusst werden und nicht nur im Rahmen von Wettbewerbsvorteilen aktiv werden. Das bedeutet, einen Purpose zu formulieren und klar festzulegen, welchen gesellschaftlichen oder ökologischen Beitrag sie leisten wollen.
Regisseur John Webster geht mit seinem Film ans Eingemachte der Büroarbeit. In Interviews geben Burnout-betroffene Angestellte einen Einblick in ihr Seelenleben. In das tägliche Spielen ihrer Rolle, der systematischen Unehrlichkeit und den gesellschaftlichen sowie eigenen Erwartungen. Dem Stigma, dass es scheinbar nur ihnen selbst schlecht geht, das Privatleben leidet – während alle anderen scheinbar gut klarkommen. Die große Frage des Films, der im Jahre 2022 erschien: „Wie entsteht eine toxische Arbeitswelt, die Kreativität und Freude fast systematisch verhindert?“
Der Film ist aktuell bis 3.12.2024 in Österreich bei ORF.ON streambar, englischer Original-Titel: „The Happy Worker – Or How Work Was Sabotaged“.
Am Ende war ich jedoch … ernüchtert. 😔 Die bisherigen Begleitstudien der Pilotprojekte sind allesamt noch nicht so ganz transparent und belastbar laut MAITHINKX-Redaktion. Die Redaktion hat (wie immer) mit wissenschaftlichen Gütekriterien die aktuelle Studienlage untersucht und einiges kritisiert:
Ein Hoffnungsschimmer laut Redaktion ist die Studie der Uni Münster (Prof. Dr. Julia Backmann) zum Pilotprojekt 2024 in Deutschland.
„Bis dahin gilt, es existieren zu diesem Thema – Stand jetzt – leider gar keine unabhängig geprüften und transparenten wissenschaftliche Veröffentlichungen. Nur sehr viel Medienhype um vermeintlich wissenschaftliche Studien [..] Das ist schade, denn das eine Reduktion von Arbeitszeit Vorteile haben könnte, ist alles andere als unplausibel. Nur die „Vier-Tage-Woche als Masterlösung für alles“ ist mehr Wunschdenken als Realität. Dafür sind Jobs und Branchen allein viel zu unterschiedlich. [..] Und bis wir verlässliche Forschung dazu haben, müssen wir es aushalten, dass es zum Thema Vier-Tage-Woche viele Meinungen und wenig belastbare Fakten gibt.“
Die Show MAITHINK X, moderiert von Mai Thi Nguyen-Kim, hat sich die Studien zur 4-Tage-Woche unter die Lupe genommen. Herausgekommen ist u.a. ein starker Einspieler, der die Geschichte der Arbeit von der 7-Tage-Woche bis zur 40h-Woche und den damit verbundenen, gewerkschaftlichen Arbeitskämpfen zeigt. Funfact: Vertreter:innen der Wirtschaft warnten vor jeder der bisher erfolgten Veränderungen sehr eindringlich.
Fünf Tage arbeiten, zwei Tage Freizeit. Das ist für viele von uns vermutlich Normalität. Tatsächlich hat sich die 5-Tage-Woche erst Ende der 70er Jahre so richtig durchgesetzt.
Wir fliegen auf einem Gesteinsbrocken durch die Unendlichkeit. Ohne ein uns bekanntes Ziel, ohne klare Mission, ohne dass uns jemand ein Briefing gegeben hat.
Viele Menschen haben sich schon zuvor mit dieser großen Frage beschäftigt, u.a. Albert Camus mit seiner Philosophie des Absurden (im Rahmen des Existenzialismus):
Wie Camus in Der Mythos des Sisyphos ausführt, widerspreche diese Vorstellung allerdings nicht notwendigerweise der Bejahung des Lebens und dem Glück des Menschen, das gerade in den nie endenden Anstrengungen gegen eine absurde Welt gefunden werden könne. https://de.wikipedia.org/wiki/Sinn_des_Lebens
Der Psychotherapeut Irvin D. Yalom identifizierte vier Gegenbenheiten des Lebens. Eine davon: „das Fehlen eines offensichtlichen Sinns oder einer Bedeutung des Lebens“.
„Vier Gegebenheiten sind für die Psychotherapie besonders relevant: die Unvermeidlichkeit des Todes für jeden von uns und für die, die wir lieben; die Freiheit, unser Leben so zu gestalten, wie wir es wollen; unser endgültiges Alleinsein; und schließlich das Fehlen eines offensichtlichen Sinns oder einer Bedeutung des Lebens. Wie düster diese Gegebenheiten auch erscheinen mögen, sie enthalten den Samen der Weisheit und der Erlösung. Ich hoffe, mit diesen zehn Geschichten aus der Psychotherapie zeigen zu können, dass es möglich ist, sich mit den Wahrheiten des Daseins zu konfrontieren und ihre Kraft in den Dienst der persönlichen Veränderung und des Wachstums zu stellen.“ – Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version, Zitat-Quelle: goodreads)
Zugegebenerweise ist das Buch dicker Brocken, den ich zum vollen Verständnis noch ein zweites Mal lesen müsste. Die gute Nachricht aus diesem Buch: Es ist psychisch vollkommen gesund, sich die Frage(n) nach dem Sinn des Lebens zu stellen. Eine weitere Erkenntnis: Sinn ist nicht zwangsläufig auch Glück. Es gibt zudem nicht nur die eine Frage nach dem Sinn des Lebens.
Diese Sinn-Fragen stellen sich potenziell umso mehr, je stärker wir mit Bezug auf Klimakrise, Artensterben & Co Fragen stellen wie „Warum Wirtschaften, Arbeiten, Leben wir so, wir es aktuell tun?“.
Und wär ich jetzt nicht auf Tour Dann säß ich wahrscheinlich in irgendeiner Drecksagentur Wecker sechs Uhr, Bahnfahrt Kurzes Feedbackgespräch mit dem Chef auf dem Flur „Bist du zufrieden mit dem, was du leistest? Geht da noch was, Junge, hast du das Mindset?“ Acht Stunden sitzen, Kampagnen pitchen Werbetexte dichten mit dummen Wortwitzen Und einzigem Sinn, die Masse da draußen Dazu zu bringen, mehr Schwachsinn zu kaufen Gott, ich bin jeden Tag dankbar dafür Für ein’n Job ohne Selbsthass und Magengeschwür